Eine Frau, schwarz gekleidet, steht auf einer Tribüne, steigt einige Stufen hinunter, positioniert sich, sieht sich um und spricht. Die Gestik, die sie dazu benutzt, ist ausholend, theatralisch und imposant, ihre Gesichtszüge verziehen sich hie und da zu ausdrucksstarken Grimassen. Offenbar hält sie eine Rede. Wir, die Betrachter, sehen ihr zu. Jedoch blicken wir sie nicht von vorne an, sondern stehen neben ihr, abwechslungsweise einige Schritte nach hinten oder vorne versetzt, und beobachten ihren Oberkörper und ihr Gesicht, das sich einmal im Dreiviertelprofil, einmal im Profil befindet. Somit sind wir nicht das Publikum, sondern Komplizen der Rednerin, die über ihre Schulter zusehen, wie sie zu den Zuhörern spricht. Die, und das ist das erstaunliche an dieser Szene, sind nun eigentlich gar nicht vorhanden. Oder besser: das Publikum hört nicht zu, ja kann gar nicht zuhören, und wird die Frau, die da steht, wohl gar nicht oder nur flüchtig sehen. Denn es besteht aus mit hoher Geschwindigkeit vorbeifahrenden Autos: die Frau steht auf der ehemaligen Zuschauertribüne der AVUS, der Automobil-Verkehrs- und Übungs-Strasse, die heute ein Teilstück der Berliner A115 bildet.
"Rede ans Volk" lautet der Titel der als Kollaboration zwischen der Medienkünstlerin Elvira Hufschmid und der Performerin Monika Lilleike entstandenen Videoarbeit, die zur Zeit in der Ausstellung "neuStart" im Deutschen Technikmuseum zu sehen ist und einige Anregungen gibt, nicht nur über technische, sondern soziale und kulturelle Aspekte des Autos nachzudenken. Ausgangspunkt zur Entwicklung des Werks war die spezifische Konstellation der Autobahn und der angrenzenden Tribüne, die seit 1998 keine Funktion mehr hat, seitdem der Rennbetrieb, der früher auf der Strecke stattfand und der von der Tribüne mitverfolgt werden konnte, endgültig eingestellt wurde. Übrig geblieben ist ein interessantes, aber im Kontext der Autobahn absurd erscheinendes historisches Monument. Diese Absurdität nehmen die Künstlerinnen auf und steigern sie, indem sie die Tribüne vom Zuschauerraum in ein Rednerpult umwandeln, mit dem Versuch, eine Botschaft an ein Publikum zu bringen, das nicht hören kann. Die "Rede" - so deuten wir gemäss dem Titel den Auftritt der in schwarz gekleideten Frau - wird erstens vollständig vom ohrenbetäubenden Lärm des Verkehrs verschluckt, und zweitens von den Autofahrern, dem "Volk", trotz offensichtlicher Anstrengungen der Rednerin, nicht wahrgenommen. Worte und Gestik verhallten ungehört und ungesehen.
Man könnte dieses eindrückliche Bild als Metapher für den Kommunikationsverlust einer technologisierten Gesellschaft lesen, einer Gesellschaft, die uns einen öffentlichen Raum wie die Autobahn beschert, auf der wir uns aber nicht austauschen können, sondern zu einsam sich in der Menge bewegender Autisten werden. Als Metapher einer Mobilität, die uns zwar schneller von einem Ort zum anderen bringt, aber keine Zeit zur Beobachtung lässt. Das ist ein Punkt, aber es gibt noch etwas anderes, das hier stattfindet. Schaut man sich diese Rede genauer an, fällt sie nicht nur auf, weil sie an ein ungewöhnliches Publikum gerichtet ist, sondern es ist insbesondere ihre eigentümliche Art, die ins Auge sticht. So ist es doch erstaunlich mit welcher offensichtlichen Überzeichnung die Frau agiert. Da kommen nicht nur die Arme und Hände zum Einsatz - winkt sie da die Autos durch? Versucht sie sie anzuhalten? - das Gesicht wird zu Grimassen verzogen und sogar die Zunge rausgestreckt. Für unser westliches Empfinden haben diese Bewegungen etwas sehr Übertriebenes, das man nicht richtig einordnen kann.
Tatsächlich basiert die gestische und vokale Sprache, die die Künstlerin benutzt, unter anderem auf aussereuropäischen Traditionen, genauer den Musik-Theaterformen Japans, Chinas und der alten Tanz-Theaterform Hawaiis. Es handelt sich also durchaus nicht einfach um eine stilisierte oder persiflierte Rede, für die man das Geschehen halten könnte. Andererseits aber auch nicht um einen eingeübten Handlungsablauf. Was wir beobachten ist vielmehr die Interaktion von Mensch und Situation. So stimmt es zwar, dass die Rednerin dem Publikum keine wahrnehmbare Reaktion abringen kann, das Publikum jedoch sehr wohl der Rednerin. Monika Lilleike entwickelt nämlich die schlussendliche Form ihrer Gesten im Verlauf der Performance, reagiert auf die örtlichen Gegebenheiten, in diesem Fall also auf die Autos und die umgebende Architektur und Landschaft. Nicht einfach als gescheiterten Versuch der Kommunikation kann somit dieses Bild gelesen werden, sondern gleichzeitig findet ein Zusammentreffen zweier Kulturen statt: etwas Neues entsteht. Dass dies jedoch ganz und gar nicht konfliktlos abläuft, sehen wir der Künstlerin an, die anzukämpfen hat gegen den Lärm und Gestank der Fahrzeuge, was sie schlussendlich fast zum Schweigen bringt. In der Tat sind wir Zeuge einer "spannungsgeladenen Fusion" wie es Lilleike nennt. Eine Ambivalenz vergleichbar mit unserem Umgang mit dem Auto.
Sylvia Rüttimann, Kunsthistorikerin, Bern