Die Zukunft des Automobils von Matthias Horx
Am Abend des 2. März 1913 befindet sich die wohlhabende Berliner Juweliersfamilie Plunz in ihrem "Opel Torpedo" auf der Rückfahrt von einer Sonntagsfahrt zum Wandlitzsee. Gesteuert wird der offene Tourenwagen vom 45jährigen Rudolf Plunz, neben ihm sitzt seine Frau, auf den Rücksitzen die 17- und 19jährigen Töchter. Bei Hennigsdorf, auf der viel befahrenen Rheinsberger Allee, fährt das Auto mit 40 Stundenkilometern plötzlich in ein fingerdickes Stahlseil, das in einem kleinen Kiefernwaldstück in einer Höhe von 0,5 und 1,50 Metern, also doppelt, quer über die Straße gespannt ist. Das untere Drahtseil trifft die Eheleute und die 19jährige Tochter Else an Hals, Kopf und Gesicht. Das Ehepaar ist sofort tot, Else wird schwer verletzt. Bei der nachfolgenden polizeilichen Fahndung kommt es am 5. März zur Verhaftung zweier Arbeiter, die wiederholt autofeindliche Parolen geäußert haben sollen...
Es ist die Pionierzeit des Automobils. In den Jahren 1905 bis 1930 erschütterten überall in Europa Attentate den Vormarsch des motorisierten Verkehrs aus den Städten auf das flache Land. In Österreich und im Deutschen Reich registrieren die Behörden jährlich über 100 Fälle von ernsthaften Steinattentaten, Barrikadenbau, Herstellen von "Autofallen" mittels Scherben und Nägeln oder Löchern in der Fahrbahn. In der Schweiz ist es vor allem die Landbevölkerung, die gegen die Zumutungen der Neuen Zeit rebelliert. Im Kanton Luzern wird 1910 Kuhmist ins offene Automobil eines Hofrats geschüttet. Am Zürichsee leert ein Bauernknecht 1911 ein komplettes Jauchefass in einen Luxuswagen, im Juli 1915 spannen Unbekannte mit einer Egge verbundene Drahtseile über die Uferstraße. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass in Graubünden im Jahr 1911 mit 11.700 gegen 3.800 Stimmen generell gegen das Automobil abgestimmt wird ? ein absolutes Fahrverbot für Automobile existiert bis zum Jahr 1925! Diese Auswirkung lokaler Demokratie soll den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Verkehrsabkommen 1910 um ein Haar zu Fall bringen.
In mehr als 100 Jahren Automobilgeschichte sind die Tonlagen der Gegnerschaft nie wirklich ganz verstummt. Konservative Kulturkritiker wie Walter Sombart und Oswald Sprengler führen den bürgerlich-konservativen Protest gegen das "Autotempo, das der Tiefe des menschlichen Wesens widerspricht". Das Auto gilt in der nationalistischen Zeit mal als "Metropolitane Hure der Geschwindigkeit", mal als "Instrument der Entfremdung" oder "Erfindung atlantischer Ingenieure und nomadisierender Juden". In den 60er Jahren, als das Auto zu seinem finalen demokratischen Siegeszug ansetzt, wechselt die Kritik mühelos ins linke Lager. Godards "Weekend" und "Easy Rider" erzählen vom Aufstand der Intellektuellen gegen die Mobilität der Spießer. Die Umweltverschmutzung wird zum vorwiegenden Tenor des Auto-Bashing. Seit Mitte der 70er Jahre ist kein Jahr vergangen, in dem nicht Stern, Spiegel, Facts, Panorama und Co. vom "Chaos auf den Straßen", von "mörderischen Verhältnissen", vom "motorisierten Wahn" berichtete.
Warum verhallten am Ende alle Warnungen folgenlos? Warum wurden Tausende von Symposien, Talkshows, düsteren Prophezeiungen, Brandreden auf politischen Versammlungen in den Wind geschlagen? Warum hörte niemand auf die zahlreichen "Alternativ-Verkehrsexperten", die radikale Ausstiegs-Szenarios oder hochkybernetisch ausgeklügelte Schiene-Straße-Systeme austüftelten? Warum kam es nie wirklich auf den Markt, das Greenpeace-Auto mit dem grünen Motor, das Sparauto für die Dritte Welt, das Vernunft-Vehikel aus Leichtplastik? Warum scheiterten am Ende auch der Öko-Golf und der grüne Manager Goeudevert, der alles ganz, ganz anders machen wollte? Und warum kam es nie wirklich zu dem immer wieder drastisch prophezeiten Totalstillstand, zum Parkplatz von Flensburg nach Chiasso, von Brüssel nach Budapest?
Weil, erstens, der motorisierte Individualverkehr selbst ein öko-kybernetisches System ist. Räumliche Individualbewegung ist eine Frage des Angebots und der Nachfrage. Wenn zu viele Autos auf den Straßen unterwegs sind, wird diese Mobilität teurer (unter anderem durch erhöhten zeitlichen Aufwand). Die Folge: Menschen kaufen weniger Autos, fahren weniger oder lassen den Wagen in der Garage und steigen auf andere Wege des Reisens oder des Arbeitens um. So regelt sich der Verkehrsstrom systemisch selbst. Zweitens war das Auto nie wirklich in seinem Wesenskern ein Fortbewegungsmittel. Deshalb prügelte die ökologische Umwelt- und Verkehrskritik, aber auch die mobilitäts-feindliche Kulturkritik im Grunde immer ins Leere. Das Auto ist im höchsten Maße eine subjektive Erfahrung, ein Gefühlsmodul. Über das Gefühl, einen "Willen in Kraft" zu verwandeln, schrieb schon die amerikanische "Motor World" im Jahre 1901:"Kontrolle über diese materialisierte Energie zu übernehmen, die Zügel dieses Monsters mit Stahlmuskeln und einem Herzen aus Feuer in die Hand zu bekommen ? das ist etwas, was an die universalen Sinne, an die Liebe zur Macht appelliert..."
Ja, Macht. War das Auto nicht auch ein wesentliches Substitut für die großen Träume, die die Menschen im totalitären 20. Jahrhundert träumten? Kompensierte es nicht die Ohnmacht des "Kleinen Mannes" in mechanische Bewegung? Hätte Hitler den "Kraft durch Freude"-Wagen schon 1933 in Massen unter die Leute gebracht ? vielleicht wäre alles anders gekommen. Und: Aufbruch. Einfach wegfahren können. Beweglichkeit, Tag und Nacht. Das Auto wartete geduldig vor der Tür, ließ alle Zugpläne und Abreisekalamitäten in Rauch aufgehen. "Ich gehe jetzt! Das lasse ich mir nicht gefallen!" Der Besuch bei den schrecklichen Eltern war nun nur noch halb so schlimm. In der individuellen Aneignung des Weges von A nach B liegt so viel Weltmacht, wie in der Sprache, oder im geschriebenen Wort. Wie kein anderes Artefakt - das gedruckte Buch vielleicht als Ausnahme - hat das Auto soziale Systeme geformt und war gleichzeitig Ausdruck sozialer Formungen. Die Erschließung des Raumes, im Pferde- und Eisenbahn-Zeitalter nur entlang der Traversalen möglich, wurde damit zur strukturbildenden Kraft. Suburbia, dieser universelle Ort unserer Kindheit, irgendwo auf den Zuckerrübenfeldern zwischen den Autobahnkreuzen, zwischen den verwüsteten Stadtkernen und dem Nirwana der Dörfer, konnte ohne das Auto nicht entstehen. Die Baumärkte. Die Einkaufszentren. Die Autokinos. Das Kiffen am Fluss. Die Pubertät überhaupt, die ganze juvenile Revolte, der Aufbruch und Auszug aus dem Elternhaus: Ohne Auto, wenigstens ohne Moped, wäre er niemals vollzogen worden.
Autos sind Symbole des Aufbruchs, aber auch der Wiederkehr. So, wie der Käfer den universellen Aufbruch symbolisierte, steht "der Golf" heute für den Verzicht auf wirklichen Aufbruch (im Sinne gesellschaftlicher Veränderung. Generation Golf eben: Kapitulation auf Wohlstands-Niveau). Autos sind aber auch ? und immer mehr ? Orte des Verweilens. Sie sind individuell kontrollierter Raum in einer zunehmend als überkomplex empfundenen Umwelt. Hier liegt der Grund, warum viele Millionen Menschen das Stehen im Stau nicht nur ertragen, sondern ? die moderne Stauforschung bestätigt es ? sogar genießen. "Ich bin gleich daheim, Schatz. Naja, dauert vielleicht noch eine halbe oder dreiviertel Stunde..." In der steigenden Komplexität unserer sozialen Verhältnisse ist die Familie längst nicht mehr der Ort der Harmonie und der Freude, der Hafen des Glücks. Der Arbeitsplatz hingegen wird mehr und mehr zum Ort der Selbstverwirklichung, in dem hard fun angesagt ist.
Home becomes work, and work becomes home: Zwischen diesen beiden Polen des Stresses sind wir ? allein im Auto! Wir kontrollieren hier einen Raum in mehreren Dimensionen. Heerscharen von Olfaktorikern, Haptikern, Materialwissenschaftlern, Designern, Sound-Gestaltern haben diesen Raum nur auf eine Person hin zentriert: Auf uns! Musik! Duft! Bewegung! Das Auto ist eine Blase, ein narzisstischer Kokon, in den wir uns genüsslich einspinnen. Das Auto ist das inwendige Paradies des modernen Menschen. Phallus und Uterus in einem.
Man stelle sich vor, jeden Tag würden weltweit 40 Flugzeuge abstürzen und ihre Passagiere in den Tod reißen. Dies wäre in etwa die Todesbilanz des Autos, wenn man den weltweiten Autoverkehr zum Maßstab nimmt und in Relation zu den Fahrkilometern setzt. 89 Prozent der Verkehrstoten verlieren in Afrika und Lateinamerika ihr Leben. Jährlich sollen, so ergab 1999 eine Studie der Weltbank, 850.000 Tote durch motorisierten Auto- und Motorradverkehr entstehen ? und 35 Millionen Verletzte. Der Sachschaden in einem Jahr beträgt weltweit 500 Millionen Dollar.Wieso ist diese scheinbar irrwitzige Bilanz so gänzlich unbekannt? Wieso führt sie nicht zu einem noch viel alarmistischeren Diskurs über das Automobil, als im Zeitalter des Global-Warming-Mythos sowieso schon angesagt? Erstens, weil das Auto, anders als das Flugzeug, technische Kontrolle suggeriert. Anders als der Flugtod, der den Passagier chancenlos lässt, "ereilt" der Autotod uns scheinbar nicht, sondern wir "produzieren" ihn. Zweitens aber - und wichtiger - verschwinden die negativen Zahlen hinter einer einmaligen technischen Triumphgeschichte - zumindest in den Industrienationen. Die meisten Todesopfer bei Verkehrsunfällen wurden in Deutschland 1970 gezählt: In diesem Jahr starben 21.332 Menschen allein auf deutschen Straßen. Heute sind es jährlich etwa 6.000 Todesopfer bei einem achtfach erhöhten Verkehrsaufkommen. 1953 kamen auf 100.000 Kraftfahrzeuge noch 265 Getötete, 2006 zwölf. Die Rate verbesserte sich im Schnitt um den Faktor 24! Anders gerechnet: Nach den Todesraten des Jahres 1970 müssten heute allein auf deutschen Straßen etwa 160.000 Menschen sterben! Die Geschichte des Automobils ist nicht nur die Geschichte einer sagenhaften Ingenieursleistung, sie ist vor allem die Historie einer epochalen Mensch-Maschine-Anpassung. Bei diesem Prozess, der ein volles Jahrhundert andauerte (und noch lange nicht zu Ende ist), spielten Unbekannte eine gewaltige Rolle: Statiker und Unfallstatistiker, Ampelsystem- und Straßenbauer, Schilderspezialisten. Fahrbahnmarkierer, Ergonomen, Dummy-Spezialisten, Landschaftsplaner, Verkehrsplaner, Signalspezialisten, Versicherer. Und vor allem: Fahrlehrer. Unter dem Strich bleibt die subjektive Geschichte des Automobils eine Geschichte des zivilisatorischen Triumphes.
In Spielbergs Science-Fiction-Film "Minority Report" aus dem Jahr 2002 wird das Auto der Zukunft in einer äußerst realistischen Weise gezeigt. Zusammengebaut von ultraschnellen Robotern in einer menschenleeren nanotechnischen Fabrik, mit Linearmotoren ausgestattet, sieht es aus wie eine Kreuzung aus einem heutigen Smart und einem Ferrari, aber ganz ohne das protzige Design eines Zeitalters, in dem die Verschwendung fossiler Brennstoffe noch sexuelle Leadership versprach. Es ist klein, kompakt und schnell, futuristisch und effektiv. Es fährt von alleine - auf magnetischen Schienen. Der menschliche Geist hat sich längst so intensiv mit den automobilistischen Utopien auseinandergesetzt, dass selbst heute die meisten Auto-Visionen alt aussehen. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts schon stellte Buckminster Fuller sein "Dymaxion Car" vor - ein tropfenförmiges Utopiegefährt auf drei Rädern, das sich auch in die Luft erheben sollte (schließlich erwies es sich als zu schwer, auch zum Fahren). Unvergessen sind die automobilen Utopien des Illustrators A.C. Radebaugh, der in den 40ern und 50ern den amerikanischen "Barock-Auto-Utopismus" schuf (www.losthighways.org). In den 60er Jahren konnten wir in allen Illustrierten Automodelle bewundern, die mit Glaskuppeln ausgestattet waren (wie heute die französischen Autos). Die Familie spielte darin Karten, Männer mit Hut lasen Zeitung, während das Auto vollautomatisch über das endlose Band einer immer leeren Autobahn schnurrte. Wird sie am Ende doch noch so aussehen, unsere automobile Zukunft?